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Familie Stuhr

Der Sprechstundenhilfe in die alte Heimat gefolgt

Gäbe es das Spiel „Zeigt her Eure Geburtsstadt!“, dann bekämen Emma und ihre Freunde viel zu sehen. Denn die Vierjährige gehört zu einer Gruppe, deren Eltern aus dem Osten stammen, in den Westen zogen, dort ihre Kinder bekamen, um als junge Familien wieder in den Osten zurückzukehren. Emma und ihre einjährige Schwester Nele stießen beispielsweise ihre ersten Schreie in Rosenheim aus. Ihre Freunde Paula und Max wurden in Ulm geboren, Maja in Ludwigshafen, Lennart in Hamburg und Danny in Neckarsulm. Nun wohnen alle in Kamenz.

Ost und West - mit diesen Kategorien können die Kleinen gar nichts anfangen. Früher wohnten sie dort, und jetzt eben hier. So einfach ist das. Etwas schwerer taten sich hingegen die Eltern mit der Entscheidung, wieder in die alte Heimat zurückzukehren. „Wir hatten uns ja in Bayern etwas aufgebaut“, sagt Andreas Stuhr. In seinem Fall einen Stamm von 1000 Patienten. Im Januar 2008 hatte der frisch gebackene Zahnarzt als Assistenz in einer Praxis in Rosenheim begonnen. Seine Frau Stefanie Oppermann-Stuhr - ebenfalls Zahnärztin - folgte nach ihrem Examen ein halbes Jahr später.

„Ich hatte mich quer in Deutschland beworben, aber das Gesamtpaket war in Rosenheim das Beste“, erzählt Stuhr. Dresden war vor sieben Jahren auch in der engeren Wahl, doch dort hätte er nur 1500 statt 2500 Euro brutto im Monat verdient. Und außerdem wollten der gebürtige Neubrandenburger und die Freibergerin „raus in die Welt“.

Das Paar fühlte sich sehr wohl in Bayern. Von ihrem Küchenfenster aus blickten sie aufs Alpen-Panorama, konnten die Kampenwand und den Wendelstein sehen. „Wohnen, wo andere Urlaub machen!“, lautete die Werbebotschaft in Rosenheim. Die ersten Risse bekam das Idyll, als im Februar 2010 Emma auf die Welt kam und ihre Mutter einen Kita-Platz suchte. Oppermann-Stuhr wollte wieder arbeiten gehen, sobald Emma ein Jahr alt war. Nur zwei von vier örtlichen Kindergarten-Gruppen nahmen Einjährige auf. Die katholische Einrichtung war voll und winkte gleich ab. „Die haben mich angeschaut wie eine Rabenmutti“, erzählt die Zahnärztin. In der anderen Kita wäre frühestens im Herbst 2011 etwas frei geworden. So suchte sie per Zeitungsannonce eine Tagesmutter. „Ich wusste bist dahin nicht mal, dass es so etwas gibt.“ Die Stuhrs hatten Glück. Es meldete sich eine Tagesmutter, die nur 500 Meter entfernt wohnte. So konnte Stefanie Oppermann-Stuhr wieder arbeiten gehen.

Doch irgendwann stellte sich für Andreas Stuhr die Frage nach der beruflichen Zukunft. Sollte er eine eigene Praxis in Bayern aufmachen, in einer bestehenden als Teilhaber einsteigen oder mit Frau und Kindern doch wieder in den Osten zurückkehren? „Die Familie fehlte uns schon. Wir blieben über Skype und Telefon in Kontakt. Besuche waren bei mehr als 600 Kilometern Entfernung nur selten drin“, sagt Stefanie Oppermann-Stuhr. Plötzlich mischte der Zufall kräftig mit. In der Praxis in Rosenheim arbeitete die Zahnarzthelferin Kornelia Panitz mit, die aus Hoyerswerda stammte. Die „Ossis in Bayern“ verstanden sich auf Anhieb, sie wurden sogar richtig gute Freunde. So lernten die Stuhrs auch die Tochter von Kornelia Panitz kennen, die mit ihrem Mann ein Fitnesstudio in Kamenz betreibt. „Wie viele gute Ideen ist auch unsere bei mehreren Gläsern Wein entstanden“, erzählt Stuhr und ergänzt: „Wir wollten in Kamenz ein Gesundheitszentrum mit Fitnessstudio, Zahnärzten und Orthopäden eröffnen.“

Die ursprünglichen Träume sind zwischenzeitlich zerplatzt, aber die Familie Stuhr zog dennoch im Februar 2013 nach Kamenz um. Sie nahm einen Kredit auf, kaufte eine Wohnung, richtete dort eine Zahnarztpraxis ein, fand ein Wohnhaus zur Miete, einen Kindergarten für Emma, den auch bald Nele besuchen wird. „Persönlich sind wir hier angekommen“, betont Andreas Stuhr: „Wirtschaftlich aber noch nicht.“ Er ging ein hohes Risiko ein, in einem Ort, in dem er fast niemanden kannte, eine neue Praxis zu eröffnen. Patienten wechseln nicht so schnell ihren Arzt. Aber der 35-Jährige ist sicher, dass sich das Risiko lohnt. Denn irgendwann geht die ältere Zahnarzt-Generation in Rente. Im Gegensatz zu Bayern, das von jungen Zahnärzten überlaufen ist, stehen im ländlichen Ostsachsen junge Nachfolger nicht gerade Schlange. Seine erste Mitarbeiterin hat Stuhr aus Rosenheim gleich mitgebracht: die Zahnarzthelferin aus Hoyerswerda, die sowieso wieder in ihre alte Heimat zurückkehren wollte.

Die Stuhrs haben ihre neue Heimat gefunden - und lieben gelernt. Oma und Opa sind wieder näher gerückt, sie selbst müssen sich nicht rechtfertigen, warum Emma und Nele nicht getauft sind. Besonders die Nähe zu Dresden hat es den Rückkehrern angetan. Stefanie Oppermann-Stuhr arbeitet - zunächst befristet - in der Kinderzahnheilkunde der Universitäts-Zahn-Medizin (UZM). „Das Pendeln klappt gut. Morgens schlafe ich im Zug, abends lese ich zum Abschalten ein Buch“, erzählt sie. Irgendwann, hoffen sie, haben sie so viele Patienten, dass sie beide in ihrer Praxis in Kamenz arbeiten können. Und irgendwann kaufen sie sich vielleicht auch mal ein eigenes Häuschen. In Rosenheim hätte sie ein Mittelreihenhaus schlappe 400.000 Euro gekostet. „Dafür würdest du hier ein Schloss bekommen“, meint Andreas Stuhr. Aber ein Schloss brauchen sie nicht. Höchstens als Miniatur für Emma und Nele. Zum Spielen mit ihren Freunden, die in ihren jungen Jahren schon so weit verteilt in Deutschland gelebt haben.

Interview und Text: Peter Glumbick und Daniela Retzmann